Eine Ästhetik der Aufklärung

Er entscheide mit einer Arbeit jeweils darüber, was ein Betrachter zu sehen bekommt;
schließlich wolle er ja etwas mit seiner Kunst, meinte Manfred Emmenegger-Kanzler einmal –
und, so möchte man ergänzen, der Betrachter muss dann entscheiden, ob er seinerseits bereit ist,
Arbeit in die eigene Wahrnehmung zu investieren, um Antwort zu finden auf die Frage, was denn das Kunstwerk von ihm wolle.

In diesem Wechselspiel zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachter erst wären Manfred Emmenegger-Kanzlers Anspruch
und das Anliegen seiner Kunst zu erfüllen.
Emmenegger-Kanzlers Plastiken geben sich entschieden. Nichts an ihnen erscheint zufällig.
Sie sind präzise gearbeitet und, einem ersten Blick zumindest, klare, geometrische Konstruktionen
 – unspekulative und konkrete Objekte, bar jeder Expressivität und vermeintlich von hermetischer Selbstbezüglichkeit.
Sie bemühen keine Illusion der Darstellung; außer dem, was materiell da ist, stellen sie nicht vor.
Und doch ist die augenscheinlich so durchschaubare, selbstreferentielle Klarheit dieser schon architektural zu nennenden Gebilde
von einer kalkulierten Raffinesse, die die Wahrnehmung des ersten Blickes zu einem zweiten, korrigierenden, ergänzenden Blick
und wieder zu weiteren, vielen Blicken noch nötigt – was schließlich den Betrachter dazu bringen kann,
über die eigene Wahr-Nehmung zu reflektieren, den Prozeß des Wahrnehmens selbst wahrzunehmen.
Die Einfachheit der Arbeiten Manfred Emmenegger-Kanzlers erweist sich stets als trügerisch,
resultierend aus der sorgfältig geplanten Komplexität einer Anordnung von differentiellen Elementen,
die untereinander ein dialektisches Spiel von Gegensätzen entfalten:
Form und Materie, Körper und Leere, Gerade und Krümmung, Ecke und Rundung,
 Innen und Außen, Vorne und Hinten, Oben und Unten usf....
 – niemals wird es dem Betrachter gelingen, eines dieser Elemente isoliert von den anderen
oder die Gesamtheit der Gegensätze in einem einzigen Augenblick zu erfassen.

Emmenegger-Kanzlers Interesse an bestimmten Formkonstellationen prägt sich oft in Reihen von gleichartigen,
freilich voneinander abweichenden Objekten aus.
An diesen Variationsreihen eines formalen Themas wird vollends deutlich, daß in der Wahrnehmung weder das Einfache einfach
noch das Ganze ganz jemals gegeben, hier und jetzt da ist.
Das Einfache ist immer schon nur aus Differenzen hervorgegangen, die einander bedingen und ineinander sich wandeln
 – das Ganze setzt sich immer schon nur zusammen aus der schrittweisen Bewegung des Beobachtens eben dieser Differenzierung.
An der Kunst Manfred Emmenegger-Kanzlers wird die dialektische Abhängigkeit des Einen vom Anderen,
das unauflösliche Widerspiel von Identität und Differenz sinnlich erfahrbar.
Mit seiner Arbeit untersucht er die Grundlage dessen, was von einem Betrachter als Phänomen wahrgenommen wird.
Dies als Erkenntnis sich bewußt zu machen, wäre die Arbeit des Betrachters.

Dr. Walter H. Lokau